Asoziale Religiosität?


„… wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott …“ – 1 Joh 4,7ff

Man kann aus diesen Aussagen und denjenigen in den folgenden Versen zurückschließen auf Fehl-Haltungen in der Gemeinde/den Gemeinden, an die sich der Brief wendet:

Man nahm für sich in Anspruch, „von Gott geboren“, „wiedergeboren“ zu sein (7).

Man nahm für sich in Anspruch, mit Gott in besonderem Maß vertraut zu sein und Gott zu „kennen“ (7).

Man nahm für sich in Anspruch, in besonderem Maß Gott zugewandt zu sein und ihn zu „lieben“ (10).

Man nahm für sich in Anspruch, besondere Gotteserfahrungen gemacht und Gott quasi „gesehen“ zu haben (12).

Man nahm für sich in Anspruch, in der Gottesbeziehung einen gewissen Grad von „Vollkommenheit“ erreicht zu haben (12).

Mit all diesen Ansprüchen setzte man sich religiös elitär von anderen Gemeindegliedern ab, die als geistliche Anfänger und Stümper galten.

Dieser Anspruchshaltung der angeblich Fortgeschrittenen und Eingeweihten tritt Johannes dezidiert entgegen, indem er die Liebe als das eigentliche Kriterium für christliches Leben ins Spiel bringt und damit die Fragwürdigkeit jener Anspruchshaltungen der Reihe nach aufweist. Ganz lapidar gleich zu Beginn: „Wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott …“.

(Predigt) „… Erst dieser Tage las ich einen Bericht über religiöse Strömungen in unserer Zeit. Zu diesen Strömungen gehört vor allem die sog. Esoterik oder auch New-Age-Religiosität. Auch christliche Kreise sind davon erfasst und beeinflusst. Auch da geht es interessanterweise um höhere Erkenntnis, um besondere Erfahrungen mit kosmischen Kräften, um Eingeweihtsein in Geheimnisse der Weltentwicklung. Und auch da, so stellt der Bericht fest, gibt es eine deutliche Tendenz zu einer egoistischen, elitären Religiosität, bei der das Ich, seine Erlebnisse und Erfahrungen im Mittelpunkt stehen. Man kann geradezu von einer asozialen Religiosität sprechen.

Und nun, auf diesem Hintergrund, bekommen die Aussagen unseres Textes im 1. Johannes-Brief ihr Profil. Ich will euch sagen, so der Apostel, ich will euch sagen, wer in Wirklichkeit ‚von Gott geboren ist’, wer sich dieses anspruchsvolle Adelsprädikat zulegen darf. Ich will euch sagen, wer in Wirklichkeit behaupten darf, er ‚kenne’ Gott, er sei vertraut mit seinem Wesen, eingeweiht in seine Geheimnisse. ‚Jeder, der liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe.’ …

‚Niemand hat Gott je gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.’ Noch einmal bekommen wir einen Hinweis darauf, wieweit sich dünkelhafte, ichbezogene scheinchristliche Religiosität damals versteigen konnte und heute versteigen kann. Dazu können sich Menschen versteigen, dass sie meinen, sie hätten Gott gesehen – ja, in Visionen, in Gotteserfahrungen, in irgendwelchen mysteriösen Erlebnissen. So suchen und finden sie vermeintliche Gottesnähe, so tragen sie angeblich Gott in sich.

Nein, sagt dazu unsere Botschaft. Niemand hat Gott jemals gesehen. Aber wenn wir in christlicher Liebe füreinander offen werden, für jede und jeden in der Gemeinde, wenn wir uns desto mehr zuständig fühlen, je erbärmlicher jemand dasteht, und wenn wir so füreinander da sind, dann ‚bleibt Gott in uns’, heißt es – dann ist Gott uns also denkbar nahe und wir ihm; dann tragen wir ihn tatsächlich in uns. Dann vervollkommnet sich seine Liebe, die er in Christus der Welt erwiesen hat, in uns und durch uns. Dann kann es dazu kommen, dass wir dem anderen ein Christus werden, wie Luther es als Sinn und Ziel der christlichen Existenz formuliert hat. Und wir dürfen wissen, dass wir damit die höchste Stufe der Religiosität, die höchste Stufe der Gottverbundenheit und der Gotteserkenntnis erreicht haben. …“

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